Die Oberlausitz ist reich an Sagen und Legenden. Viele entspringen der Fantasie, andere wiederum haben einen wahren Kern. Wie auch die Folgende, sogar mit Jahr und Tag bezifferte, Geschichte, die im Nachhinein für ein spöttisches Sprichwort sorgte: „In Bautzen (Budissin) hängt man die Diebe zweimal“
A. Krenz
Im Jahr 1558 soll es gewesen sein, dass sich vor den Mauern der Stadt Bautzen, jenseits der Spree im Dorf Seidau, ein polnischer Student zeitweilig niedergelassen hatte. Er war ein melancholischer Typ. Schwermütig, mit gesenktem Blick, schlich er durch die Gassen und saß er abends mal im Bierhaus, hockte er nachdenklich und allein in einer Ecke. Meist las Bartholomäus, so sein richtiger Name, dabei in einem Buch. Dann und wann konnte man ihn auch am Ufer der Spree beobachten, wie er seltsame Experimente mit allerlei Gestöck und anderen Utensilien vollführte. Da das gemeine Volk von Budissin, wie die Stadt damals noch hieß, recht ungebildet und plump daherkam, hatte es für solche Menschen wie den Bartholomäus kaum Verständnis. Die Leute spotteten und riefen ihm unflätige Dinge hinterher. Gemeinhin nannten sie ihn nur den Tollen Barthel. Vornehmlich die Tochter des Drahtziehers aus Seidau hatte es auf den jungen Polen abgesehen. Mit ihren 20 Lenzen nicht die Gescheiteste und von wenig graziler Figur, provozierte sie den Barthel in einer Tour. Einmal, im unbeobachteten Moment, hob sie sogar den Rock und machte ihren prallen Hintern vor ihm blank.
Doch am verschlossenen Gemüt Barthels schien vieles abzuprallen. Es war, als nähme er den Menschen nichts übel. Einmal aber war das Maß voll. Der Sommer schickte sich gerade an, das Land zu verlassen, die Tage wurden kühler, da ließ er sich vom Seidauer Schuster Hienke neue Schuhe machen. Als Barthel Selbige abholte, warf ihm Hienke das Paar vor die Füße.
„Da hast du deine Schuhe“, lachte er höhnisch.
„Indes, wozu du solch gutes Werk brauchst, will mir nicht recht einleuchten. Wirst mit deinem wideren Verstand nicht weit kommen auf dieser Welt. Bezahle nur geschwind, denn am Ende landest du Vogel noch am Galgen und unsereins geht leer aus!“
Das war Barthel zu viel. Augenblicks sann er auf Rache, wobei ihm die eben beschiedene Aussicht, am Galgen zu enden, auf eine Idee brachte.
„Ei Meister Hienke“, antwortete er doppelsinnig, „wäret ihr wohl damit einverstanden, würde ich eure Mühe mit dürrem Leder entlohnen?“
Hienke wiegte den Kopf: „Neues, trockenes Leder, das wäre ganz trefflich für mein Geschäft“. Er dachte es und willigte schließlich ohne Argwohn ein.
Der Tolle Barthel rieb sich die Hände. Seinen perfiden Plan zu verwirklichen, schlich er sich am Sonnabend, den 17. September, kurz nach Mitternacht an die Galgen vor dem Äußeren Lauentor. Genau dorthin, wo nicht weit entfernt heute die Gaststätte Zum Zollhaus steht. Seit fast zwei Jahren baumelten dort zwei abgeurteilte Verbrecher. Wind und Wetter ausgesetzt, waren deren Leichen bis auf Haut und Knochen verwest, die Kleidung hing nur noch in Fetzen an ihnen herunter. Barthel verkniff seinen Ekel, schnitt die armen Sünder ab und machte sich auf den Weg. Immer an der Spree entlang kam er mit den Leichen unterm Arm über die Seidauer Brücke. Er steckte die Erste unmittelbar rechter Hand in ein offenes Fenster der Drahtmühle, die Zweite lehnte er drei Häuser weiter an die Tür von Meister Hienke. Danach ging er schräg über die Gasse in seine Kammer, voller Freude, von da aus am nächsten Morgen ein bisher nie da gewesenes Spektakel zu erleben.
Unvermeidlich geschah, was Barthel vermutet hatte. In der Frühe betrat die Tochter des Drahtziehers als Erste die untere Stube. Beim Anblick der, vom Fenster herab kopfüber auf dem Boden liegenden, Leiche erfasste das arme Mädchen blanke Panik. Ein markerschütternder Schrei weckte mit einem Schlag alle Bewohner des Hauses.
„Der Leibhaftige, der Leibhaftige“, kreischte sie wie von Sinnen, sodass ihr Vater sie kaum beruhigen konnte. Nicht anders bei Schuster Hienke. Grad wie der Meister in der 6. Stunde am Morgen die Haustür öffnete, fiel ihm das schauerliche Gerippe direkt in die Arme. Starr und bleich vor Schreck, brachte Hienke für Minuten kein Wort heraus. Erst langsam kam er zur Besinnung. Nachdem er etliche Leichenfetzen von Gesicht und Hemd gewischt hatte, dämmerte ihm, wer diesen Streich gespielt haben könnte.
„Mit dürrem Leder entlohnen!“ Blitzartig schoss ihm dieser Satz durch den Kopf – dem Schock folgte unbändige Wut. Laut fluchend rannte er auf die Gasse und stieß wilde Drohungen in Richtung Barthels Fenster aus. Mit der Zeit vermischte sich Hienkes Gebrüll mit dem Gekreisch aus der Drahtmühle. Vom Lärm trotz früher Stunde nach draußen gelockt, fragten zahlreiche Seidauer besorgt, was denn los sei. Angesichts der abgeschnittenen Leichen, der wilden Gesten sowie übelster Verwünschungen gegen den Tollen Barthel, stimmten einige ins allgemeine Zeter und Mordio ein, andere dagegen konnten vor Lachen kaum an sich halten. Nicht nur Seidau, sondern ganz Bautzen hatte ab diesem Tag ein neues Stadtgespräch.
Für den Tollen Barthel hatte die Angelegenheit ein übles Nachspiel. Am Vormittag gingen Drahtzieher- sowie Schumachermeister hinauf in die Stadt und zeigten die boshafte Tat bei Gericht an. Der Pole kam zu Arrest, wurde vernommen und in der Nacht zum Montag, begleitet von Gerichtsdienern, über die Grenze nach Schlesien und von da aus weiter in Richtung Polen abgeschoben. Der Scharfrichter aber erhielt noch am gleichen Tag den Befehl, die Gehenkten wieder an ihre Galgen zu knüpfen. Er tat das gern, denn er bekam, nunmehr zum 2. mal, für seine Arbeit den ihm zustehenden Lohn. Schnell machte der Fall in der Oberlausitz die Runde. Seitdem heißt es: „In Bautzen (Budissin) hängt man die Diebe zweimal.“
(Nach einer überlieferten Sage, erstmals abgedruckt im Oberlausitzer Magazin anno 1772)