Ausgerechnet in der besinnlichsten Zeit des Jahres bahnte sich vor 162 Jahren in der Oberlausitz ein Desaster an. Just am Neujahrstag endete es in einer Katastrophe. Wie durch ein Wunder kam dabei niemand zu Schaden. Trotzdem starben zwei Menschen, doch die hatten mit dem Ereignis unmittelbar nichts zu tun.

Eine neue Bahnstrecke bringt wirtschaftlichen und touristischen Aufschwung

Viadukt über das Tal der Löbau

Heute sind es hauptsächlich die Bahnen der Verkehrsunternehmen Trilex und ODEG, die über 9 Bögen den 190 Meter langen sowie 28,6 Meter hohen Viadukt von Löbau nach Görlitz und umgekehrt befahren. Die Brücke gehört zu den wichtigsten Bahnverkehrsadern Deutschlands. Mitten in der Oberlausitz überspannt sie das Tal der Löbau und ermöglicht einen reibungslosen Schienenverkehr bis nach Breslau und in westliche Richtung nach Dresden, Erfurt sowie weiter nach Frankfurt/Main bzw. Köln und Aachen. Begonnen hatten die Bauarbeiten zur Errichtung der Strecke Dresden – Görlitz im Jahre 1844. Zwei Jahre später, im Dezember 1846, stellte die eigens dafür gegründete Sächsisch-Schlesische Eisenbahngesellschaft den Anschluss zum Bahnhof Löbau fertig. Am 29. April 1847 war es dann so weit und der Viadukt bestand seine Bewährungsprobe. Der erste Zug rollte bis nach Reichenbach/OL und am 1. September desselben Jahres konnte die Gesellschaft den regulären Fahrbetrieb nach Görlitz aufnehmen. Für Löbau war die neue Verkehrsanbindung ein Segen. Brachte sie doch wirtschaftlichen Aufschwung sowie zusätzlich jede Menge Menschen in die Stadt. Letztendlich war auch sie einer der Gründe, weshalb sich der ortsansässige Bäckermeister Friedrich August Bretschneider entschloss, einen gusseisernen Turm auf dem Löbauer Berg zu erbauen. Vom Bahnhof zum Berg war es nicht weit und so versprach er sich beste Geschäfte, als er seinen Turm am 9. September 1854 einweihte. Doch bereits am Ende jenes Jahres bahnte sich für ihn, zumindest aus verkehrstechnischer Sicht, Ungemach an.

Es begann mit einem kleinen Riss

Es war kurz vor dem Weihnachtsfest und der Arbeiter August Semig kam zum Dreschen in die direkt am Löbauer Viadukt gelegene Wetzschkemühle. Wie der Sohn des Müllers Jahre später als Augenzeuge berichtete, schaute Semig auch an diesem Tag gewohnheitsmäßig empor und bemerkte, dass diesmal etwas anders war.Am vom Bahnhof aus gesehen 2. Pfeiler der Brücke bemerkte er einen kleinen Riss. Zunächst maß er dem keine Bedeutung bei. Am letzten Weihnachtsfeiertag jedoch überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Der Spalt war gewachsen und er meldete seine Beobachtung Karl Gotthelf Heinrich, dem Besitzer der Mühle. Der wiederum meinte, diesen Umstand unverzüglich anzeigen zu müssen und lief zum Bahnhof. Der so herbeigerufene Betriebsingenieur Bahr besah das Malheur und ließ den Spalt vorerst mit einem Bogen Papier bekleben. Als dieser riss und auch ein danach eingeschlagener Keil wieder herausfiel, war für Bahr Gefahr im Verzug. Er meldete den Fall der Eisenbahngesellschaft und ließ sofort Holzstämme heranfahren, um den Pfeiler abzustützen. Ein sehr schwieriges Unterfangen, denn Dauerregen hatte den Boden durchweicht und die Löbau stellenweise über ihre Ufer treten lassen. Nichtsdestotrotz mussten jetzt ständige Wachen aufziehen, welche auch nachts die fackelbeleuchtete Stelle zu beobachten hatten.

Hastiges Räumen und banges Warten

Wetzschkemühle von Osten her gesehen

Mittlerweile war der 31. Dezember herangekommen. Die Menschen in der Oberlausitz bereiteten den Jahreswechsel vor und auch die Familie Heinrich war guter Dinge. Sie hofften, der Schaden über ihren Köpfen würde am Ende doch nicht so groß sein, wie befürchtet. Ihre Hoffnung war das Eine, die Realität allerdings sah anders aus. Nach der Silvesterfeier hatten sich die Mühlenbewohner – das waren neben der Familie mit ihren 6 Kindern 1 Müller, 2 Knechte und ein paar Dienstmädchen – zur Ruhe begeben. Vielleicht hörten sie um 03:30 Uhr noch den letzten Schnellzug von Görlitz nach Dresden über den Viadukt rattern, dann fand ihre Nachtruhe ein jähes Ende. Heftiges Klopfen am Fenster scheuchte sie kurz nach 4 Uhr aus den Betten. „Meister Heinrich“, rief eine aufgeregte Stimme, „stehen sie auf, retten sie, was sie retten können, die Brücke stürzt gleich ein!“ Vor der Tür stand Bahr. Wild gestikulierend unterstrich er seine Warnung und bedeutete den Bewohnern, sofort mit einer Räumungsaktion zu beginnen. Pferde und Kühe wurden daraufhin hastig zum Stadt Breslau (dem späteren Wettiner – dann Oberlausitzer Hof) getrieben. Schweine nebst Hausrat kamen in die etwas abseits gelegenere Scheune. Danach schien der Aufenthalt im und um das Haus zu gefährlich. Was blieb, war banges Warten.

Die finale Katastrophe

Einsturz des Viaduktes

Als der Morgen dämmerte, hatte sich die Aktion in der Stadt bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. Obwohl es immer noch regnete, stand an der Wetzschkemühle alles voller Leute. Neugierig und dennoch besorgt harrten sie der kommenden Dinge. Und diese kamen schlimmer, als die meisten sie sich vorstellen konnten. Um 09:30 Uhr, pünktlich zum Kirchgang, ging dem 2. Pfeiler die nötige Spannung verloren und er fiel, unmittelbar gefolgt vom 3. Pfeiler, donnernd in sich zusammen. Wenig später musste auch der in Mitleidenschaft gezogene 4. Pfeiler gesprengt werden, wobei der 5. gleich mit ihm zusammenbrach. Anschließend kam die Eisenbahn nicht umhin, den 6. Pfeiler ebenfalls in die Luft zu jagen und als ob das nicht genug wäre, kippte nun auch der 7. Pfeiler ins Tal des Löbauer Wassers. Die Katastrophe war perfekt: Vom stolzen Löbauer Viadukt war so gut wie nichts mehr zu sehen, er existierte faktisch nicht mehr! Das Szenario wirkte, als hätte der Teufel seine Hand im Spiel. Die Leute vermuteten das umso mehr, denn gerade einen Tag vorher, am 31. Dezember 1854, war die Garantie für das Bauwerk abgelaufen.

Pendelverkehr und Wiederaufbau

Viadukt vor 1900

Nach dem Unglück stand der gesamte schienengebundene Personen- und Güterverkehr zunächst still. Indes war dieses in der Oberlausitz gelegene Teilstück der Ost-West Verbindung nach Schlesien wirtschaftlich viel zu wichtig, als dass man es für längere Zeit hätte aufgeben können. Rasch richtete die Sächsisch-Schlesische Eisenbahnverwaltung in Wendisch-Cunnersdorf einen Notbahnhof ein und organisierte den Pendelverkehr für Reisende sowie Frachtgut per Pferdewagen. Ewig durfte dieser nicht dauern, deshalb begannen die Räum- und Wiederaufbauarbeiten mit neuen statischen Berechnungen schon kurz nach dem Unglück. Gerade mal 1 1/2 Jahre dauerten die Bauarbeiten. Am 28. August 1856 übergab die Bahn den Viadukt zum 2. Mal dem öffentlichen Verkehr. Schäden an der Wetzschkemühle, musste sie glücklicherweise kaum ersetzen. Letztere war nur leicht beschädigt davongekommen, weil 2. Und 3. Pfeiler nicht seitlich fielen, sondern gerade in sich zusammengesackten. Ebenso kamen in direkter Folge des Unglücks keine Menschen zu schaden, indirekt dagegen schon. Kurz nach der Tragödie nahm sich der Konstrukteur des Viaduktes, sei es aus Scham oder Furcht vor den Folgen seines Fehlers, das Leben. Außerdem kam der 46-jährige Maurergeselle Traugott Manitz aus Ebersdorf während des Baus durch einen tragischen Unglücksfall zu Tode. Er hinterließ eine hochschwangere Frau und 4 Kinder. Fast 90 Jahre lang rollte der Verkehr nach dem Wiederaufbau reibungslos über den Löbauer Viadukt, bis ihn am 7. Mai 1945 ein zweiter Schicksalsschlag ereilte. Das jedoch ist schon wieder eine andere Geschichte …

Mehr von diesen Geschichten lesen Sie in meinem Buch „Verratene Liebe“ aus der Reihe „Auf historischen Pfaden“.